Samstag, 28. Oktober 2023
Resilienz gegen Kriegslogik
Die weltpolitische Entwicklung verschlägt mir zunehmend die Sprache.

Auch wenn kritisch denkende Menschen wissen, dass Kapitalismus und Nationalismus erwartbar zu Suprematie-Wahn und Krieg führen; auch wenn alle wissen können, dass die Übernutzung von Ressourcen zu Zerstörung, Mangel und damit zu Kriegen in all ihren Formen führen; entsetzen mich dennoch die rasend schnelle Militarisierung auch europäischer Gesellschaften, die Kaltherzigkeit von Massenabschiebungen und Sterbenlassen, die Machtgeilheit von Politiker*innen, die Dummheit und Selbstgeilheit, mit der Verschwörungstheorien und der Banalität von Hass gefolgt wird, und die ungeheure Brutalität, mit der vertrieben, vergewaltigt, bombardiert, gemordet, entführt und sterben gelassen wird.

Ich habe eine gewisse Resilienz gegen Grauen und Vernichtungsängste, nachdem ich mit dem NATO-Doppelbeschluss aufgewachsen bin, der Militarisierung sowie das Risiko von Massenvernichtung und der Auslöschung Deutschlands als Pufferzone zwischen Ost und West in Kauf genommen hat. Auch da wurden der Wille des progressiven Teils der Bevölkerung ignoriert, warnende und pazifistische Stimmen niedergeschrien und massenhaft Ressourcen in Kriegsgerät statt in Soziales, Kultur und Bildung gesteckt. Auch da war Massenvernichtung jederzeit möglich und wurde mehrmals nur sehr knapp verhindert.

Vielleicht deshalb gerate ich weniger schnell in Panik und Verzweiflung - nicht, weil es mir egal wäre oder ich kein Mitgefühl hätte! Im Gegenteil, ich erkenne Muster wieder und verstehe, dass das Erzeugen eines Angstklimas Teil der Kriegsstrategie, von Kapitalismus und Rassismus ist. Ich erkenne auch die Muster wieder, in denen von Zwangsläufigkeit und „Zeitenwende“ die Rede ist, obwohl all dies auch anders hätte entschieden werden können. Muster, in denen die eine Seite komplett zur guten Seite erklärt wird (meist Nato, Ukraine, Israel,…), und eine andere Seite zwingend die komplett böse sein müsse (meist Putin, Muslime, Gaza,…). Jede Kritik an den „Guten“ wird dann als Fürsprache für die „Bösen“ gedeutet (die es oft ist, aber oft auch nicht) – ein funktionierender Trick, um Kritik zum Schweigen zu bringen und jegliche Diskussion zu ent-rationalisieren. Die Expansionspolitik und Wortbrüchigkeit der Nato wird auf diese Weise ebenso un-diskutierbar wie Hinweise auf Autoritarismus und Korruption im ukrainischem Regime und die humanitäre Kritik an Internierung und Bombardierung von zwei Millionen Menschen in Gaza, die keineswegs alle für die Hamas oder gar ihren widerwärtigen Überfall auf Israel sind.

Schon mal – noch dazu in prägendem Alter – mit Kriegslogik und potentieller Massenvernichtung konfrontiert gewesen zu sein, macht mich resilienter dagegen, in Panik und Verzweiflung zu versinken. Dennoch entsetzen mich das Leiden der Menschen unter anderen in Ukraine, Kongo, Jemen, Gaza und Israel. Je mehr sich das Desaster von Klimazerstörung, Kriegen, Rassismus und Femiziden steigert, umso weniger funktioniert dieser Schutz – besonders wenn ich die Machtgeilheit, Null-Empathie und Kaltschnäuzigkeit von Entscheidungsträger*innen und Populist*innen nicht mehr ertragen kann. Spätestens wenn ich dazu noch Filme über die Friedens-, Frauen- und Ökobewegungen aus den 1980er sehe, schnürt es mir die Luft ab in Anbetracht von 40 Jahren und mehr Widerstand gegen Machtgier, Brutalität und Vernichtung, in denen immer wieder und wieder und wieder klargemacht werden muss: Leben ist kostbar, Menschenrechte gelten für alle und Krieg ist niemals eine Lösung.

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