Dienstag, 11. August 2020
Umweltzerstörer (Gwen 20)
In früheren Zeiten hatten sich die Drachenfamilien sehr häufig getroffen. Dann aber machte sich der Mensch breit, grub Löcher in die Erde, verseuchte Flüsse und Meere mit Plastik, Gülle und Öl, stellte Städte in die schönsten Versammlungsplätze der Drachen und kletterte sogar auf die höchsten Berge, die noch lange den Drachen vorbehalten geblieben waren. Die Meere und Seen waren heute eine Kakophonie von Motorenlärm, überall schwamm Plastik herum und Kreuzfahrtschiffe lösten schweres Asthma aus. Unter den Drachen tobte nun schon seit Jahrhunderten ein Streit, ob den Menschen weiter erlaubt bleiben sollte, die Erde für die Drachen und schließlich auch für die Menschen unbewohnbar zu machen. Gwen schüttelte unmutig den Kopf, während sie sich über die Ignoranz der Menschen ereiferte: keine der zahlreichen Katastrophen hätte dauerhaft eine Umkehr gebracht. Oder die Verbesserungen wären nur regional gewesen: da könnte man heute im Rhein wieder schwimmen und zeitgleich versänken Nigerias Gewässer im ausgelaufenen Öl der Raffinerien. Gwen schnaufte: „Also, worauf ich hinauswill: Früher gab es zweimal im Jahr große Treffen der Drachen in bestimmten regionalen Zentren, während sich die engeren Clans jeden Vollmond vor Ort trafen. Das war herrlich, bei Vollmond die Winterdrachen am Nachthimmel kreisen zu sehen, Neuigkeiten auszutauschen und zu entscheiden, zu welchem Regionaltreffen wir fliegen werden.“

Gwen schüttelte sich, seufzte erneut und stellte klar, dass es nach wie vor einige Treffen gäbe, die für jede*n Drachen unverzichtbar wären. Das galt für einen Drachen wie Drax, der nicht mit anderen Drachen aufgewachsen war, natürlich umso mehr. Drax müsste sich an die Gepflogenheiten der Drachen gewöhnen und am Jugendritual aller Drachen teilnehmen. „Wir fliegen also alle zusammen zum nächsten Jugendritual am Sommerende nach Granada“, schloss Gwen ihre Erzählung fürs Erste. Während Drax mit leuchtenden Augen Gwen anstarrte, fing Skye an zu stottern: „Moment mal. Wer ist Wir? Und so bald schon? Wie soll ich das denn organisieren? Nehmt ihr mit überhaupt mit? Und was tue ich dort, führe ich Drax zum Altar oder was? Und Granada? In Spanien? Fliegen? Etwa auch ich? Ich steige doch in keinen Flieger mitten in der Pandemie!“, Skye holte Luft und merkte selbst, dass sie klang wie eine ihrer nervösen Tanten.
Gwen wartete geduldig ab, bis Skye wieder ruhiger atmete. „Es wird sich alles finden,“ antwortete Gwen, „Eines ist aber klar. Wir müssen nach Granada und wir müssen bis Mitte September dort ankommen. Und jetzt brauch ich Bewegung“. Gwen stand auf, schüttelte Cracker von sich ab und rumpelte durch den Flur Richtung Ausgang. Drax sprang sofort auf, hüpfte ganz unseriös vor Aufregung herum und rief: „Komm schon, komm, wir gehen raus.“

Skye beeilte sich in ihre Schuhe zu kommen und lief hinter den beiden Drachen her. Immerhin flogen die beiden nicht gleich auf, sondern liefen zu fuß mit ihr durch die Felder. Zwei Drachen und ein Mensch verbrachten einen fast normalen Familienausflug an einem heißen Sonntagnachmittag, liefen durch die Felder und genossen den Ausblick auf den blauen Himmel. Gwen wirbelte pustend Strohreste auf den sonnengelben Feldern auf. Drax nagte vorsichtig an den Maiskolben, spuckte die aber gleich wieder aus, weil sie noch hart und gar nicht süß waren. Skye hingegen schwitzte und war froh als sie endlich am See ankamen. Sie suchten sich eine halbwegs unbevölkerte Ecke, rutschten am Schlammufer herab und plumpsten alle drei genüsslich in den See. Die anderen Menschen fragten sich, welcher Riesenfisch diese merkwürdige Welle ausgelöst hatte, und zogen sich näher ans Ufer zurück. „Mehr Platz für uns“, grinste Gwen und schüttelte die Seepflanzen ab, die sich um ihren Kopf verfangen hatten. Sie plantschen herum und Drax zog sogar Skye durch das Wasser, bis sie froh und herrlich erfrischt vor sich hin lachte.
So abgekühlt und entspannt warfen sie sich schließlich ans Ufer, ließen Wasser von sich herablaufen und knabberten weitere Cracker. Gemütlich guckten sie den Menschen bei ihrem Treiben zu, die unerklärliche Wellen und Wirbel der Drachen ignoriert hatten, weil sie sie nicht einordnen konnten. „Wie Fernsehen, nicht wahr?“, grinste Gwen mit Blick auf die wuselnden Menschen, die kreischend im Wasser herumtobten oder auf Luftmatratzen in Form von Einhörnern, Delphinen, Donuts und sogar einer Bratwurst vor sich hin dümpelten.

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