Samstag, 13. Januar 2018
Drache vorm Bauch (Gwen 3)
Skye lief am See entlang und schaute auf den grauen Himmel. Es war nicht sonderlich kalt, aber die kahlen Bäume und zerzausten Reiher und Enten am See machten sie melancholisch. Sie mühte sich ab, wacker durch den Matsch zu stapfen, weil sie dringend Bewegung und frische Luft brauchte. Außerdem schien die Gehbewegung Gwens Ei im Tragetuch vor ihrem Bauch zu beruhigen. Der kleine Drache schien seit einigen Tagen sehr unruhig. Das Ei vibrierte leicht und schwankte manchmal beunruhigend hin und her. „Wie wird das wohl werden?“, überlegte Skye. Ewig kann der kleine Drache ja nicht in seiner Hülle bleiben.

In den letzten Wochen hatte Skye versucht, das Ei irgendwie warm zu halten. So oft wie möglich trug sie es am Körper, weil sie vermutete, dass auch bei Drachen Körperkontakt und das Spüren eines Herzschlages irgendwie beruhigend sein dürfte. Wenn sie das Ei nicht tragen konnte, lag es in einem Korb vor der Heizung, den Skye mit all ihren Badetüchern ausgestattet hatte. Skye war sich immer noch nicht sicher, ob sie verrückt war, aber auf irgendeine Weise fühlte sie sich verantwortlich für dieses kleine Wesen. Sie hatte keine Ahnung von so etwas wie Brutpflege aber Wärme, Berührung und mit ihm reden schien ihr erstmal richtig zu sein.

Zwei Wochen nachdem Gwen ihr Ei auf Skyes Sofa zurückgelassen hatte, war sie aufgewacht, weil Gwen ihr warme Luft ins Gesicht schnaufte. Sie öffnete die Augen und schaute direkt in Gwens flauschig weich behaartes Gesicht. Einen Augenblick betrachtete sie den Flaum in Gwens Nüstern und versank erneut in ihren großen, tiefbraunen Augen. „Wie soll das werden?“, fragte Skye. Gwen schaute sie lange an. Skye fiel es schwer, diesem Blick standzuhalten, der alles enthielt: Wärme, Trotz, Verletzbarkeit und Rätsel.
Schließlich brummte Gwen: „Achte gut auf den kleinen Drachen. Es gibt nur noch sehr wenige von uns Winterdrachen und dieser Drache hat bisher alle Liebe erhalten, die ein starker Drache braucht. Es macht mich traurig, ihn zurück zu lassen.“ Skye schreckte hoch: „Hey, das kannst du nicht machen! Ich habe keine Ahnung, was ein Drache braucht. Wie soll ich ihn füttern und aufziehen? Ich muss arbeiten gehen und überhaupt, was soll ich ihm beibringen? Ist das überhaupt ein Er oder eine Sie? Und wann kommst Du wieder? Wie ….“. Gwen unterbrach Skye, indem sie ihr erneut ins Gesicht schnaufte: „Das wichtigste ist zu atmen. Alles andere wirst Du schon herausfinden. Drachen sind viel unkomplizierter als Menschen – wir wachsen einfach. Drachen sind keine klebrigen hilflosen Fleischfalten, die nichts können außer schreien, essen und kacken. Das wird schon. Drachen haben bereits Zähne beim Schlüpfen, also keine Sorge vor schlaflosen Nächten beim Zahnen. Wir brauchen keinen Schnuller, keine Windeln und auch keine Vorschule. Drachen sind. So einfach ist das. Drachen kommen nicht als er oder sie zur Welt. Drachen sind und wachsen.“ Gwen grinste erneut, stupste Skye an und atmete ihr warm und stinkig ins Gesicht. „Warum ich?“, fragte Skye. „Du hattest den besten Wein.“, schmunzelte Gwen.

Gwen schaute auf das Ei im Korb, schnaufte auch das Ei an, seufzte tief und verschwand.
Seitdem hatte Skye Gwen nicht mehr gesehen. Also hatte sie sich bemüht, das Ei warm zu halten und es darüber hinweg zu trösten, dass es so allein war. Es war sinnlos sich zu fragen, wie Gwen es geschafft hatte, sie von der Verantwortung für den Drachen zu überzeugen. Das Ei war nun mal da und seine nun häufiger werdenden Bewegungen zeigten, dass der Drache darin lebendig war – der Drache oder die Drachin.

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