Dienstag, 12. September 2017
Das Leben in vollen Zügen genießen
Es begab sich, dass Skye eine Reise tat. Aufgeregt und noch leicht müde wurden Knabberkram vorbereitet, Pausenbrötchen gekauft und Coffee to Go erstanden. Bestens präpariert saß Skye gemütlich zwischen ihrem Gepäck und schaukelte ganz zufrieden in bürgerlicher Wohlorganisiertheit vor sich hin. Im Gegensatz zu letzter Woche gab es diesmal keine Fußballfans, die alle Strophen „eisgekühlter Bommerlunder“ in blutende Ohren gegröhlt hatten. Skye genoss die Verantwortungslosigkeit des Transportiertwerdens und ließ sich nicht davon irritieren, dass auf der Anzeige immer mehr Reiseziele gestrichen wurden. Mit der professionellen Gelassenheit einer Bahncard-Besitzerin dachte sie kurz an Softwaremüll und schaukelte einfach weiter in freudiger Erwartung, bald ganz bald bald bald das Meer zu sehen.

Etwas unruhiger wurde sie, als die Durchsage erklang: „rüsemer nicht erreicht Hude heute abweichende törolo knörz brödele Informationen darqalann“. ?? Was wollte uns der werte Bahnmitarbeiter damit sagen? Es schien etwas ganz und gar nicht in Ordnung zu sein. Skye zog sich schon mal die Schuhe wieder an, falls es sich um einen Taifun, auslaufende Klos oder eine Evakuierung handeln sollte. Kurz nach Bremen brachen die Fakten sich schließlich doch Bahn. Glasklar erklang: „Vollsperrung. Heute nur bis Hude. Schienenersatzverkehr“.
DAAAAs war gar nicht gut und klang nicht nach Meer. Alles wird gut, sagte die Bahn. Und wenn die Bahn das sagt, gibt das Anlass zur Sorge.

Die ganze nervöse Bagage wurde also in Hude auf den Bahnsteig gekippt. Dort gab es weder Pauken noch Trompeten, schon gar keine Hinweise. Der ganze menschliche Müll strudelte sich irgendwie durch den Pissegeruch der Bahnunterführung und fand immerhin den Busbahnhof. Auf dem es leider keine Busse gab. 30 Minuten passierte gar nichts, kein Bus, keine Information, kein hilfreicher Geist.
Schließlich nahte ein einsames Taxi, das seine Kundin unter den 300 Wartenden finden musste, die alle 299 von der Taxifahrerin genau erfahren wollten, warum sie keineswegs einsteigen konnten. Nun allmählich wurde es laut, während Geschichten ausgetauscht wurden, wen es denn nun gerade am härtesten getroffen hatte. Skye machte irgendwann nur noch „Pah!“-Geräusche: Sie kommen später nach Hause? Sie müssen eine Fähre später nehmen? Sie hassen es hier zu stehen? PAH, Skye verpasste gerade die einzige Fähre des heutigen Tages und damit den Zugang zu ihrem Jahresurlaub!

Die Zeit verging unausweichlich und schließlich näherte sich ein einzelner Bus, aus dem 50 Menschen ausstiegen, die am anderen Ende der Sperrung festgesessen hatten. Entgegen des Singsangs aus dem Zug über den heilbringenden Schienenersatzverkehr erfuhr der Busfahrer nun zum ersten Mal, dass er keineswegs eine gemütliche Leerfahrt nach Hause vor sich hatte, sondern 300 entnervte Menschen in kleinen Portionen um die Sperrung herum schaukeln sollte. Weiterhin gab es keine Helfer. Es wurde nicht geschaut, wer den eiligsten Termin, das größte Drama, Kinder oder Rollstühle hatte. Nein, der erste und einzige Bus füllte sich mit rüstigen Rentnern, die vermutlich alle heute eh nichts mehr vorhatten. Halleluja. Da Skye nicht ihre Ellenbogen einsetzen wollte, wurde spätestens jetzt klar, dass die Fähre unerreichbar war. Es gab keine Infos, ob der Bus jemals wiederkommen würde und wenn ja wann. 250 Menschen standen ratlos und Skye wollte heulen, wen verhauen oder nach Hause.
Diese Möglichkeiten abwägend drehte sie mit ihrem Rollköfferchen ein paar tiefe Furchen in den Asphalt und ging dann vor sich hin schimpfend zurück auf den Bahnsteig. Dort jedoch standen weitere 100 Menschen, die auf die Wiederkehr der Züge warteten. Auch hier gab es keine Infos. Auf Skyes Bemerkung „nah, wenigstens hagelt es nicht“, öffnete sich der Himmel und kippte lauwarmes Pladderwasser auf die Wartenden.

Schließlich fuhren zwei winzige Züge ein mit der erhellenden Aufschrift „bitte nicht einsteigen“. Nun das konnten sie, das taten sie ja schon seit über einer Stunde. Auf dem Display erschienen nun Listen der Züge, die ausfielen. Jetzt wussten sie immerhin, was alles nicht ging, und hatten eine gute Sicht auf die weiterhin 200 Leute am Busbahnhof, die wie sedierte Fische in Ermangelung von Sinn und Richtung hin und her waberten. Eine weitere Stunde später gingen die Zugtüren auf, magische Wörter erschienen. Skye wählte „Bremen“. Immerhin war sie da vor gut zwei Stunden schon mal und da war es zwar nicht besser, aber immerhin näher an irgendwas außer Pampa.

Inzwischen verharrte sie in miesepetrigem Schweigen und wurde ohne weitere Schnörkel schließlich in Richtung nach Hause geruckelt. Nun wurde sie also ohne Abendbrot, Meeresbriese oder sonstwie Begeisterung auf ihr Zimmer geschickt. Strafe für nix. Kosten für nix. Sieben Stunden in Zügen für nix. Mit ihrer neu gewonnenen abgrundtief resignativen Gelassenheit surfte sie hoch professionell und ohne Hilfe, die eh nicht kommt, von einem verspäteten Zug zum nächsten.
Es wäre natürlich zu viel verlangt gewesen, schon in Bremen zu sagen, dass es keinen Sinn macht, erst in die Pampa zu fahren. Oder zuzugeben, dass es den Schienenersatzverkehr nur auf der Homepage, Abteilung Marketing und Treppenwitze, gibt. Oder anzubieten, dass alle ins Maritim gehen und auf den Untergang der verpeilten Bahn trinken. Nein, die Bahn bot die Chance, mit völlig fremden Leute zu schimpfen, die Depression der Pampa so richtig auszukosten und am Ende sogar froh zu sein, den Jahresurlaub nun auf dem Sofa, aber immerhin nicht ausgesetzt in einem Busbahnhof ohne Busse zu verbringen.

Und dabei kann Skye nicht mal schimpfen: Sie waren bloß 300. Sie waren alle satt und kamen nicht aus dem Krieg. Sie haben alle ein zu Hause. Sie waren nach 3 Stunden Ungewissheit vollkommen angepisst – nicht über die Sperrung, sondern über das beschissene Krisenmanagement und den absoluten Mangel an Informationen. Wie muss es da erst Menschen gehen, die davor bereits Krieg und Dramen im Schlauboot erlebt haben, währenddessen nicht wissen in welchem Land sie sind und wann es weitergeht und die noch dazu einer ungewissen Zukunft entgegenfahren?
Die 300 sind genervte Wohlstandsreisende, die an guten Service gewöhnt sind und sich zurecht beschweren, wenn der nicht kommt. Und ja, Skye ist genervt. Ja, sie hat schlimmes Heimweh nach dem Meer, um das sie betrogen wurde. Aber ja, sie hat ein zu Hause und kann in Ruhe den Kopf schütteln, während sie sich den größten Trost-Eisbecher gönnt, den sie bekommen kann.
Endlich daheim hat sie zwar kein Meer, aber sie hat unverplante Zeit gewonnen. Sie sagt einfach keinem, dass sie umgedreht wurde und wieder da ist. Sie macht nun statt Atmen am Meer vier Tage nur was sie will, wann sie will, mit wem sie will. Und das ist ein großer Luxus.

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