Mittwoch, 13. Juli 2016
Alter II: Der Himmel und die Hölle sind immer die Anderen
Was bedeutet es also, in einem bestimmten Alter zu sein?
Das Selbstempfinden meines Alters wird nicht zuletzt vom Blick der anderen auf mich beeinflusst: Auf einmal werde ich darauf angesprochen, ob ich Kinder habe. Auf einmal lösen Tätowierungen Befremden aus. Mein Körper wird ganz anders angeschaut: ziemlich abrupt mit 40 werden meine breiten Schultern und Oberarme nicht mehr als Kampfsportfitness sondern als Übergewicht kommentiert. Für die meisten Standardmänner scheine ich mit einem dreifachen Ü40 (Alter, Kleidergröße und Arbeitszeiten) komplett unsichtbar zu werden. Das ist zwar praktisch ganz angenehm, weil ich das ewige Angesext-Werden mit 19 total nervig fand, aber die Gründe sind schauerlich: eine Frau über X wird als sexuell unattraktiv und inaktiv behandelt. Nicht nur dass es Pöbeleien gibt, so mache/r kommt gar nicht mehr auf die Idee, ich könnte gerade flirten statt nur höflich und hilfsbereit zu sein. Das ist bei jeder komplett unterschiedlich, aber vom Gefühl, mit jedem Jahr unsichtbarer zu werden (sei es ab 40, 50, 60, 70) berichten viele Frauen.
Die „Anderen“ also – jenseits der massiven körperlichen Veränderungen in Gewicht, Form, Fitness, Kraft und Regenationsvermögen ist es die Verbindung zu anderen Menschen, die sich für mich im Älter-Werden am meisten verändert hat. Ich brauche heute länger, bis ich mich einem Menschen öffne. Dafür verschwinde ich aber auch nicht mehr so schnell, wenn es mal langweilig oder nervig wird. Das Beginnen von Freundschaften und Lieben ist sehr viel schwieriger und seltener geworden. Dafür haben die aber eine neue Tiefe bekommen. Ich nehme Zuneigung und Verbindung nicht mehr einfach wie sie vom Himmel fallen (was etwas Bezauberndes hatte), sondern lasse mich ganz bewusst, mit Herz und Kopf und längerfristig auf einige wenige Menschen ein. Ich bin nach wie vor Teil eines großen vielfältigen Netzwerks, wie früher. Anders als früher gibt es aber in diesem wuseligen Netzwerk Menschen, denen mein Herz gehört, an die ich jahrzehntelange Bindungen habe und mit denen ich durch das Leben gehe. Diese Freundschaften haben mehr Tiefe und eine längere Lebensdauer als die Paarbeziehungen – das gab es früher bei mir so nicht.
Irgendwie bin ich also doch älter oder anders geworden. Das hat mit Körper, Erfahrungen und Lebensumständen zu tun. Auch merke ich, dass es zunehmend schwierig wird, Erfahrungen mit Menschen zu teilen, die einer anderen Zeit oder anderen Generation angehören. Die Querverweise sind unterschiedlich: meine Jugend fand ohne Handy statt und dennoch haben wir viel erlebt. Ich war live dabei als „die Mauer fiel“ oder Demonstrationen noch mehrere 100.000 Teilnehmende hatten. Umgekehrt habe ich keine Ahnung wie Life-Rollenspiele funktionieren. Dabei ist auch dies nicht so stereotyp – meine Gewohnheiten und Kenntnisse haben sich ja auch mit der Zeit verändert, indem Internet, Photoshop, Handy und Social Media auch Teil meines Lebens geworden sind.
Ich finde, Alter sagt weniger aus als gemeinhin unterstellt wird und ist zudem individuell sehr verschieden. Dass ich dennoch viel darüber nachdenke, hängt mit mal kuriosen und mal gruseligen Körperprozessen zusammen (Alterssichtigkeit? Ich??). Vor allem aber denke ich darüber nach,
-> um mich im Angesicht der Anrufungen der Gesellschaft zu orientieren (nein ich habe kein Kind und nein ich bedauere nicht, dass daraus jetzt auch nichts mehr wird),
-> um den für mich befremdlichen Blick anderer zu verstehen (Punker die mich siezen, obwohl ich doch die gleiche wie vorher bin),
-> um mich mit anderen zu verständigen (kann ich einen Lover Ende 20 oder Mitte 70 interessieren, ohne dass ich mir wie Mr. Robinson vorkomme?) und
-> um mich selbst zu verstehen: Ich werde 50? Eltern und Großeltern werden 50! Aber ich? Ich finde es nicht schlimm, 50+ zu werden aber es erscheint mir irreal: Ich stolpere doch immer noch über meine eigenen Füße und überlege, was ich mache, wenn ich groß bin!!
Und so werde ich es wohl auch weiter halten: Wenn ich groß bin, lebe ich am Meer und ihr könnt mich alle besuchen, egal wie alt ihr seid. Hauptsache ihr habt Liebe, Lust, kluge Gedanken und einen passablen Wein im Gepäck.

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