Samstag, 9. Juli 2016
muss wohl Liebe sein...
Familie – was ist das denn? Sind das die Menschen, die einen auf die Welt bringen? Für eine sorgen? Mit denen ich die ersten Jahre meines Lebens verbringe? Die mich schon erlebt haben, als ich mit Babyspeck, Zahnspange, Pubertätspickeln gekämpft habe? Sind das die, die die Wadenwickel gemacht haben? Beim ersten und beim letzten Schultag dabei waren? Sind das die Menschen, die Gene mit mir gemeinsam haben, die sich in Ähnlichkeiten, Erkrankungsrisiken und Neigungen zeigen können?
Nicht selten sind die Blutsverwandten auch die, die anschreien, prügeln, abwerten, nichts begreifen, nicht verstehen wollen oder können. Sind diese Menschen trotzdem meine Familie? Ich finde nein, weil zu Familie echtes Interesse aneinander gehören würden. Manche Menschen sind mein Ursprung, den ich nicht vergessen will – manche von diesen Ursprungsmenschen haben gutgetan oder waren eher das Problem, indem sie sich herzlos oder gewalttätig verhalten haben. Sie sind für immer das, wo ich herkomme, aber sie sind nicht das, was ich geworden bin und wo ich hingehe.
Wenn Familie die Menschen sind, mit denen ich mich am meisten verbunden fühle, mit denen ich Erfahrungen und Erlebnisse teile, dann spielen Kindheit und Gene eine Rolle, aber eben nicht die einzige. Bedeutung haben vielmehr die Momente von Verstehen und Nähe, das Gefühl sich bei manchen Menschen zu Hause zu fühlen.
Ich bin glücklich mit meinen wunderbaren Schwestern, die mich von Anfang an kennen und mich gerade deshalb lieben – sie kennen meinen weiten Weg zu mir selbst und ich kenne ihren. Sie sind meine Wurzeln, Quellen meiner Stärke, die Verbindung zu dem, wo ich herkomme. Alle anderen Liebsten habe ich mir selbst ausgesucht - weil ich musste, um Kleinlichkeit, Herzenskälte, Bosheit, Quälerei und Verrat zu entkommen. Diese Liebsten haben sich gefunden im Laufe von Jahren. – was macht Familie also aus? Von schwulen Freund* innen habe ich unter anderem gelernt, dass es möglich ist, sich eine eigene Familie aufzubauen statt ein Leben lang mit der „eigenen“ Familie zu hadern. Ich bin heute glücklich mit Menschen, die fast alle eben nicht „blutsverwandt“ mit mir sind.
Sind Bindungen ohne Familienbindung weniger stabil? Vielleicht – meine Schwestern werde ich jedenfalls nie ganz verlieren. Wie sind für immer verbunden - drei Felsen in der Brandung. Andere wichtige Freundschaften sind im Laufe der Jahre gewachsen und dann doch irgendwann verloren gegangen. Einige davon haben mich verändert und Eindrücke für immer hinterlassen. An andere, die mal ganz enorm wichtig waren, kann ich mich heute kaum noch erinnern. Innerhalb dieses sich ständig verändernden Netzwerks von Begegnungen und Freundschaften gibt es einige wenige Verbindungen, die sich von anderen Freundschaften unterscheiden: jene speziellen Menschen, die mehr mit mir teilen, wo es Verstehen gibt, wo Gespräche echter sind, mich besonders beeinflussen. Das sind jene Menschen, die immer in meinem Herz sind, auch wenn wir uns gerade nicht sehen. Jene Menschen, wo ich Wärme und Leichtigkeit fühle, wenn wir etwas zusammen machen. Menschen mit denen ich albern und entspannt bin und mit denen ich die Welt verändern kann. Da gibt es dieses spezielle Gefühl, wo es sich wie ein warmes Bad anfühlt, einfach mit diesen Menschen in einem Raum zu sein, wo Lächeln ganz tief aus dem Inneren kommt, wenn mir wieder bewusst wird, wie schön und lebendig es ist, ihn oder sie in meinem Leben zu haben.
Was macht diese Menschen so besonders? Sie sind Teil meiner Seele, wir passen aufeinander auf, haben gemeinsame Erlebnisse und tief empfundene Momente der Verbundenheit. Wir haben gelacht, zusammen Tragödien erlebt und Leid überstanden. Es gibt Zeiten, wo wir uns weniger sehen. Zeiten, wo es kompliziert ist und der Faden zwischen uns dünner wird. Missverständnisse und Verletzungen tun mit diesen Menschen viel mehr weh, zerreißen das Band jedoch eher nicht. Es macht mich verletzbar, diese Bindungen eingegangen zu sein. Es würde mir einen Teil aus der Seele reißen, diese Menschen zu verlieren. Diese Menschen sind so kostbar, wärmen mein Herz und sind die einzigen, deren Achtung oder Kritik mir wirklich etwas bedeutet. Ihre Zuneigung macht mich lebendig. Ich bin ein glücklicher Mensch, weil ich nicht nur eine schlecht behüte Kindheit überlebt, sondern eine eigene Familie gefunden habe. Mein Glück besteht daran, dass die Menschen, die ich gefunden habe, auch mich gefunden haben. Verbundenheit ist Lächeln, Teilen, Reibung, geteiltes Leben und Zu-Neigung in beide Richtungen - genau das ist für mich heute Familie.

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